NEUE WELT ist ein Reisefilm über das Gestern und das Heute jener Landstriche Mitteleuropas, die einst als Böhmen, Siebenbürgen, Dalmatien, Galizien oder Bukowina Teil der österreichisch-ungarischen Monarchie waren. Der Film reist von der alten Welt in eine neue, von Sarajewo nach Wien und weiter nach Rumänien, von Triest in die Bucht von Kotor, von der ungarischen Puszta in die Ukraine. Eine Mischung aus Musik und Geschichten, Legenden und Anekdoten, Ausschnitten aus alten Reiseführern und Zeitungen, Filmen und Fotos aus der Zeit um 1900 sowie Szenen aus dem Heute vermittelt ein Bild vom Lebens– und Überlebenskampf von Menschen zwischen Traditionen, Veränderungen und Umbrüchen.
Ein Kupferschmied in Bosnien übt sein altes Handwerk aus, verwendet für seine kunstfertigen Kreationen aber Patronenhülsen und zollt damit den Opfern der Kriege im früheren Jugoslawien Tribut. Ein Zeitungsausschnitt aus dem Triest des Jahres 1897 beschreibt die Possen des Hermann Zeitung, der als Kistenreisender unterwegs war und in Kaffeehäusern auftrat. Studenten einer Ölfachschule preisen in einem Lied aus der Sowjetzeit die stolze Ölindustrie im früheren Galizien, die einst als „Galizische Hölle“ ein Paradies für profitgierige Spekulanten war.
NEUE WELT gewährt einen vielfältigen, prägnanten und einfühlsamen Einblick in das einfache Leben abseits der großen Erzählstränge der Geschichte. Waldarbeiter in den rumänischen Karpaten, Zigeunermusiker in Ungarn, ein Rabbiner in der letzten Synagoge von Stanislau, Galizien (heute Ivano Frankivsk, Ukraine), eine Opernsängerin in Sarajewo, die aus dem Exil in eine Stadt zurückkehrt, in der muslimische Bosniaken, katholische Kroaten und orthodoxe Serben wie vor dem Krieg zusammen arbeiten. Der amtliche Name der österreichisch-ungarischen Monarchie – “Die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder“ und „Die Länder der ungarischen Krone“ –beschreibt selbst am besten die ungeheure Vielfalt einander durchdringender und sich gegenseitig beeinflussender Kulturen, Sprachen und Traditionen.
Paul Rosdy hat mehrere Jahre an NEUE WELT gearbeitet. Fasziniert von 100 Jahre alten Zeitungsartikeln und Reiseführern, die vom neuen Zeitalter der Eisenbahnen und des aufkommenden Tourismus künden, machte er sich daran, eine Region wieder zu entdecken, die gerade dann zerfiel, als sie sich anschickte, in eine moderne Zeit aufzubrechen. Die österreichisch-ungarische Monarchie ging mit dem Ersten Weltkrieg unter. Armut, politische Instabilität und Faschismus folgten. Die unsagbaren Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges ebneten dem Kommunismus sowjetischer Prägung den Weg, der sich über weite Teile Mitteleuropas ausbreitete.
Aber NEUE WELT konzentriert sich nicht auf große historische Ereignisse. Der Film kümmert sich um einfache Menschen, gewöhnliche Orte und nebensächliche, aber charakteristische Vorkommnisse in den Verwerfungen der großen Historie. Das offizielle Besuchsprogramm von Erzherzog Franz Ferdinand in Bosnien-Herzegowina im Juni 1914 gibt den Ton vor. Diese verhängnisvolle Reise endete mit der Ermordung des Thronfolgers in Sarajewo und führte geradewegs in den Ersten Weltkrieg. Dennoch erwähnt der Film dieses katastrophale Ereignis nicht. Stattdessen zeigt er lediglich den Ort des Geschehens, zwischen Straßen und Brücken, Kirchen und Moscheen, dem Bahnhof und dem Elektrizitätswerk. Die unspektakuläre Einfachheit des Ortes liegt im Schatten seiner turbulenten Geschichte – ein Schatten, der bis zum jüngsten Krieg reicht, in dem Mostar, Hauptstadt der Herzegowina, in Trümmer fiel.
In NEUE WELT liegen die großen historischen Ereignisse im Abseits des täglichen Lebens, der Arbeit und der einfachen Freuden des Alltags. Der Film betont Gesang und Musik als wesentlichen Teil davon. Er beginnt mit dem Muezzin der Moschee in Mostar, der die Gläubigen zum Gebet ruft. Dann begleitet er rumänische Waldarbeiter, die auf ihrer Zugfahrt durch verschneite Täler von verlorener Liebe singen. Sie setzen ihren Gesang fort, als sie um den Abendtisch in ihrer Hütte tief im Wald sitzen. Und als der Zug wieder zurückfährt, erklingt das wehmütige Spiel einer im Waggon dicht gedrängten Blasmusikkapelle. Die dalmatinische Küste hinab, in der Bucht des montenegrinischen Kotor, musizieren Mitglieder der Seemannsbruderschaft, des mit fast 1200 Jahren ältesten Vereins der Welt. In den Straßen der alten Hafenstadt feiert man das Meer und tanzt den Kolo. Von der Oper bis zur Volksmusik, – die Menschen in NEUE WELT leben mit der Musik.
Im ukrainischen Czernowitz, einst Hauptstadt des östlichsten Kronlandes der österreichisch-ungarischen Monarchie, schwelgt Johann Schlamp in Erinnerungen an einen in den 1930er Jahren weltberühmt gewordenen Sohn des Landes, den Sänger Joseph Schmidt und singt dessen populäres Lied „Wenn Du jung bist, gehört Dir die Welt“. In Ungarn spielt eine Zigeunerband unter der heißen Sonne, während der Bandleader Mihály Samu beschreibt, wie er mit seiner Familie die Deportation im Zweiten Weltkrieg und die schwierige Zeit danach überlebt hat.
NEUE WELT reist durch Länder, in Städte und durch die Zeit, von der alten Welt in eine neue. Angeregt vom ungewöhnlichen letzten Willen einer Gräfin, die Teile ihres Vermögens den Armen Wiens des Jahres 2000 vermacht hat, versucht ein Journalist in einem Zeitungsartikel aus dem Jahr 1910 sich auszumalen, wie Wien in dieser fernen Zukunft aussehen wird. Wird Wien zu einem Utopia, wie es Edward Bellamy, ein Schriftsteller jener Zeit, vorausgesagt hat? „Wird es zu jenem Zeitpunkte, in der von Bellamy vorgeahnten Epoche wirklich noch Arme geben?“, fragt der Artikel. „ Die Frage ist derzeit, im Jahre 1910, schwer zu lösen; immerhin sind wir neugierig darauf, wie die Geschichte ausgehen wird, und werden nicht ermangeln, uns im Jahre 2000 danach zu erkundigen.“ NEUE WELT zeigt, dass sich Menschen immer noch abmühen, dass nach wie vor Kriege geführt werden, dass die Zeiten sich ändern und die Welt dennoch vertraut bleibt.
Aljona Kozubovskaja, Busfahrerin im heute ukrainischen Czernowitz, beschreibt ihr Leben als eine Aufeinanderfolge von teils persönlichen, teils politisch-gesellschaftlichen Hochs und Tiefs. Ihre familiären Probleme überschneiden sich mit den wirtschaftlichen Schwierigkeiten eines Landes, das sich nach dem Fall des Kommunismus nur langsam erholt. „Früher hatten die Leute Geld, aber die Geschäfte waren leer“, erklärt sie. „Und heute? Es scheint umgekehrt zu sein. Es gibt ausreichend Waren in den Geschäften, die Regale biegen sich unter den Produkten, aber die Leute haben kein Geld .“ Aljona fährt ihren Bus, kommt nach Hause, füttert ihr Kind, und das Leben geht weiter.