Interview mit Paul Rosdy

Wie haben Sie Alfred Schreyer kennengelernt?
Ursprünglich wollte ich einen anderen Film machen, aber als ich im Zuge meiner Recherchen in Drohobytsch Alfred Schreyer begegnete, wurde mir schnell klar, dass ich diesen Film über und mit ihm machen musste. Alfred Schreyer zeigte mir Fotos und begann zu erzählen. Bis auf die KZ- und Nachkriegszeit in Deutschland hat er sein ganzes Leben lang nur in Drohobytsch gelebt, aber alles Erdenkliche mitgemacht, was einem im Laufe eines Lebens geschehen kann – im Bösen wie im Guten. Ich war tief beeindruckt. 

Er war ein Schüler von Bruno Schulz.
Wenn man wie ich viel Zeit in Drohobytsch verbringt und Bruno Schulz’ zwei kleine, bescheidene, aber doch so große Bücher Die Zimtläden und Das Sanatorium zur Todesanzeige kennt, dann wird einem klar: man sieht und spürt in seinen Büchern Drohobytsch überall. Wie Alfred Schreyer hat Bruno Schulz fast sein ganzes Leben lang in Drohobytsch gelebt. Seine großartige Literatur verdankt dieser heute so wunderbar vernachlässigten Provinzstadt am Fuße der Karpaten sehr, sehr viel.

Was betrachten Sie als das Böse im Kontext von Alfred Schreyers Leben?
Das Böse widerfährt ihm durch die Naziherrschaft, die Zwangsarbeit und die Unfassbarkeit dessen, was in Drohobytsch geschah. Im Wald von Bronitza, wo sich diese großen Massengrabplatten befinden, da bekommt die Hölle ein Gesicht. Es gibt viele Wälder, wo Juden erschossen wurden, aber nur einen, wo es im Heute so sichtbar wird und das halte ich für sehr wichtig. Für mich war von Anfang an klar, dass der Film hier enden wird und als Alfred mir erzählte, dass seine einzige Musikkomposition das Lied Bronitza Wald ist… Naja, als Filmautor, was will man mehr?

Und das Gute?
Diese wahrhaft einzigartige Tradition der Kinofoyer-Orchester und dass Alfred seinen Optimismus nie verloren hat. Ich bewundere das. Hier war einst dieser junge Mann, der alles verloren hat, was es zu verlieren gibt. Außer mit viel Glück sein Leben, das er der Tatsache verdankt, dass er vor dem Einschlafen im KZ Lieder sang und damit auf sich aufmerksam machte. Nach dem Krieg entschied er sich spontan, in seine Heimatstadt zurückzukehren, wo niemand und nichts mehr war. Gar nichts. Hätte er drei Monate in den Baracken des Roten Kreuzes in Berlin durchgehalten, wäre er wahrscheinlich in Buenos Aires gelandet und sein Leben hätte einen ganz anderen Lauf genommen. Jeder von uns hat irgendwann einmal eine Entscheidung getroffen, die den weiteren Verlauf seines Lebens bestimmt hat. Man merkt es zumeist erst viel später und muss sich damit abfinden und weitermachen. Das ist gut so und Alfred Schreyer hat das auf eine wunderbare Weise getan. Er erzählt und führt uns heute in die Hölle seiner Heimatstadt, aber ruft auch diese spannende Institution des Kinofoyer-Orchesters in Erinnerung, wo er trotz allem sein Glück fand. Für mich ist das Kinofoyer-Orchester ein Traum von dem ich nie träumen konnte, denn z.B. in Wien, da gab es vor den Filmvorführungen eher langweilige Modeschauen. Ich erinnere mich an meine Jugend, wo fast alles, was man mit der Sowjetunion in Verbindung brachte, schlecht gemacht worden ist. Aber im Kinofoyer, da gab es Romantik, wenn das Orchester spielte. Davon träumen heute noch viele ältere Leute in der ehemaligen Sowjetunion und ich jetzt auch. Ich bin Alfred Schreyer dafür sehr dankbar.

Sie haben den Film, von der Kamera abgesehen, fast ganz alleine gemacht.
Ja, dank der fantastischen Entwicklung in der Technik. Wir haben den Film mit einem Fotoapparat gedreht, mit dem man heute eine erstaunliche Bildqualität erreicht. Ich hatte sehr wenig Geld, wusste aber, dass ich diesen Film so bald wie möglich drehen sollte. Ich fragte Peter Roehsler ob er bereit wäre, mit mir nach Drohobytsch zu fahren und diesen Film zu machen. Ihm war sofort klar, was Drohobych ist und er sagte sofort zu. Dafür bin ich ihm sehr dankbar, er ging immerhin gemeinsam mit mir ein Risiko ein, denn die Finanzierung war noch nicht gesichert. Ich besorgte gute Mikrophone und wir drehten den Film in einer Woche im September 2010 und an zwei Nachdreh-Tagen im Mai 2011. Abgesehen von mir und Peter muss ich auch unserem Fahrer Vasyl Levtschyk erwähnen, der außerordentlich hilfreich war, wenn es vor Ort manchmal Probleme beim Zugang zu den Drehorten gab. Obwohl er weder Deutsch noch Englisch spricht und wir weder Ukrainisch noch Russisch konnten, verstand er immer gleich, worum es ging. Er wusste sofort wo der Schuh drückte und löste die Probleme mit einem Huhn und einer Flasche Wodka. Er war also nicht nur unser Fahrer, sondern zugleich auch ein intelligenter Produktionsleiter. Danke Vasyl. 

Und wie verliefen die Schnittarbeiten?
Das war natürlich Knochenarbeit, aber schön. Es gibt zwei Dinge, die ich beim Schnitt dieses Films gelernt habe: Anfangs verwendete ich bei zwei Passagen Archivfilme, dachte aber dann, es wäre doch schön, ohne Archivfilme auszukommen, da sie ja nicht, wie in den meisten meiner anderen Filme, ein tragendes Element der Geschichte waren. Während der Dreharbeiten sagte ich zu Peter, dass ich Fahrtaufnahmen brauchte. Ich wusste noch nicht wofür, aber ich wollte sie haben, für alle Fälle. Ich probierte die Fahrtaufnahmen bei all jenen Stellen, wo Alfred Schreyer von Krieg, Deportation und Massenmord erzählt. Und ich finde es funktioniert sehr gut, weil sie ausschließlich in diesem Kontext eingesetzt sind und es daher eine klare Zuordnung gibt.

Der zweite Aspekt hat mit den alten Fotos und Postkarten zu tun. Es ist unmöglich, im heutigen 16:9-Format, diese alten Fotos und Postkarten komplett zu zeigen. Man muss sie entweder oben und unten abschneiden oder links oder rechts schwarze Felder einfügen. Das gefiel mir nicht. Dann hörte ich allerlei 3D-Gerede bei Dokumentarfilmen, war mir aber bewusst, das hatte mit dieser Geschichte nichts zu tun. Und dann probierte ich einfach, die Bilder einmal komplett zu zeigen und zur gleichen Zeit ein Detail hervorzuheben. Ich finde, das funktioniert ebenfalls und ich bin sehr zufrieden damit.